Mit Datum vom 9. November 2018 wurde eine neue S3-Leitlinie (S3: Leitlinie
mit allen Elementen systematischer Entwicklung) für Diagnose und
Therapie der Neuroborreliose im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.
Federführend sind Neurologen, ein Infektiologe, ein Kinderarzt und
ein Laborarzt.
Leitlinien basieren auf dem Prinzip der so genannten Evidenzbasierten
Medizin, das heißt, es werden Studien gesichtet, die nach bestimmten
Qualitätskriterien durchgeführt wurden und diese werden im Hinblick
auf Fragestellungen analysiert. Auch Expertenmeinungen fließen ein.
Anschließend werden im Konsens Empfehlungen ausgesprochen. Diese
sind für Ärzte und Therapeuten nicht zwingend verbindlich, können
aber als Grundlage für Entscheidungen zum Beispiel bei gutachterlichen
Fragestellungen große Bedeutung erlangen.
In der genannten Leitlinie zur Neuroborreliose finden sich Einschätzungen,
die von meinen persönlichen, ärztlichen Erfahrungen der letzten
Jahrzehnte erheblich abweichen.
Meine Sichtweise ist ebenfalls durch zahlreiche Veröffentlichungen
und wissenschaftliche Studien von ExpertInnen belegt.
Folgende Aussagen sehe ich kritisch:
"Bei der späten (chronischen) Neuroborreliose lassen
sich grundsätzlich hohe borrelienspezifische IgG-Antikörper
nachweisen"...
Etwa 30 % der chronisch Erkrankten sind nach meinen Auswertungen seronegativ,
das heißt sie weisen keine borrelienspezifischen Antikörper
(einschließlich Westernblot) auf.
Diese Fälle lassen sich nur mit dem LTT aufdecken (siehe unten).
"In die Analyse gingen überwiegend Fälle mit "früher
Neuroborreliose" ein.
Zur Therapie der späten (chronischen) Neuroborreliose waren aus Gründen
der Qualität und Methodik 16 Studien mit insgesamt 15 PatientInnen
(!) auswertbar.
Diese 15 Fälle konnten wegen der geringen Zahl nicht separat ausgewertet
werden."
"Eine Behandlung mit Doxycyclin oral in einer Dosierung von 200
mg ist für die Behandlung der frühen Neuroborreliose ausreichend,
bei später (chronischer ) Neuroborreliose werden 3 Wochen empfohlen.
Die Nachkontrolle erfolgt klinisch, nicht labormedizinisch."
"Bei später (chronischer) Neuroborreliose haben 1 Jahr nach
Therapieende 60 - 80 % der PatientInnen "Residualsymptome".
Eine längerdauernde Antbiose bringe keine Vorteile."
"Das Post-treatment-lyme-disease-syndrome (PTLDS), das heißt
das Vorhandensein von Beschwerden nach einer wie eben skizziert durchgeführten
Therapie, entbehre einer wissenschaftlichen Grundlage."
"Fortbestehende Beschwerden nach behandelter Neuroborreliose waren
insgesamt eher auf ungenaue inkonsequente Diagnostik (das heißt
fehlende Durchführung einer Liquor (= Nervenwasser)-Untersuchung)
zurückzuführen."
"Der LTT ist eine ungeeignete diagnostische Methode."
Aus meiner Sicht ist eine Borreliose unter folgenden Voraussetzungen als chronisch einzustufen:
Beim Thema des "Post-Lyme-Syndroms" (diesen Begriff vermeide
ich normalerweise) oder der "Residualsymptome nach Therapie der späten
Neuroborreliose" muss man Fälle, die durch lange Krankheitsdauer
irreversible Strukturschäden an Organen und Geweben entwickelt haben,
trennen von PatientInnen mit fortbestehender, chronisch aktiver Infektion!
Diese Differenzierung gelingt momentan ebenfalls nur unter Zuhilfenahme
des LTT.
Dass eine lang dauernde Antibiotikagabe kritisch gesehen wird, ist
aus meiner Sicht hingegen völlig berechtigt.
Die langfristigen negativen Folgen der Antibiose auf das Darmmikrobiom
und das Immunsystem sind individuell nach Ausschluss anderer Therapiemöglichkeiten
nur unter dem Aspekt des kleineren Übels zu rechtfertigen.
Zusammenfassend spiegeln die genannten Leitlinien ein
auf Studien basierendes, von Ärzten entwickeltes Konzept für
den Umgang mit einer Krankheit wider, die eine zunehmende Zahl von Menschen
betrifft.
Im Kontrast dazu steht eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien, die zu
anderen Schlüssen gekommen sind.
Dass die chronische (Neuro-) Borreliose in Kenntnis der medizinischen
Kontroversen von einem Autor der Leitlinien als "Borrelien-Neurose"
abgekanzelt wurde, wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Welche wissenschaftliche Erkenntnis sich durchsetzen wird, wird die Zukunft
zeigen.
So genannte Paradigmenwechsel (Wechsel der grundsätzlichen
Lehrmeinung oder Weltanschauung) habe ich bei meiner eigenen Tätigkeit
der letzten Jahrzehnte schon öfters erlebt. Sie dauern meist lange
Zeit.
Zwei Beispiele hierzu:
Zum weiteren Nachschlagen für Studien zu den Kontroversen beim Thema
Borreliose empfehle ich die Lektüre des Referenz- und Standardwerkes
von
Herrn Dr. Walter Berghoff, Lyme-Borreliose, 1. Auflage, 2016.