Fallbericht einer chronischen Multisystemerkrankung mit entzündlicher
Beteiligung des zentralen Nervensystems durch Borreliose
(Stand 10/2018)
Der Einzelfallbericht ersetzt nicht die strukturierte Untersuchung,
Behandlung und Ergebnisanalyse größerer PatientInnengruppen.
Er kann Therapeutin und Therapeut aber Denkanstöße geben
und den Blickwinkel erweitern. |
Anamnese
- Frau, 48 J.,
- Wiederholte fieberhafte Infekte bei berufsbedingten Reisen u. a. im
Fernen Osten ohne Residuen
- 7/2012 Zeckenstich der rechten Kniekehle während einer beruflichen
Exkursion, anschließend Entwicklung einer Wanderröte, Antibiose
mit 2 x 500 mg Cefuroxim, zunächst als Selbstmedikation, anschließend
von Hausarzt über 4 Wochen fortgeführt, Rückbildung der
Wanderröte binnen 2 Wochen,
- 8/2012: Labordiagnostik: Borrelien-Antikörper IgM schwach positiv,
Westernblot IgM positiv
- Seit 9/2012 zunehmende Beschwerden: Müdigkeit, Leistungsminderung,
Symptome von Seiten multipler Organsysteme wie Nervensystem, Sinnesorganen,
Herz-Kreislauf-System, Muskulatur, Sehnen, Verdauungssystem, Haut, Immunsystem,
- 9/2013: Schwäche beider Beine, Gehstrecke 50 m, Hemihypästhesie
(halbseitige Gefühlsminderung), Parästhesien (Gefühlsstörungen),
schließlich fokale cerebrale Krampfanfälle/ Krampfäquivalente
(bis 30 mal pro Tag)
- 10/2013: Aufnahme in Neurologischer Klinik: in der Kernspintomographie
des Schädels (MRT) multiple entzündliche Herde, u. a. im Bereich
des Hirnstamms und links occipital. In der Liquordiagnostik (Nervenwasseruntersuchung)
Nachweis sogenannter oligoklonaler Banden, keine Vermehrung von Eiweiß
oder Zellelementen, im Blut zu diesem Zeitpunkt Borrelien-IgM-Antikörper
(ELISA) schwach positiv, Westernblot negativ
Diagnose
- 10/2013 in der Neurologischen Klinik Diagnose eines klinisch
isolierten Syndroms (meist Frühstadium einer multiplen
Sklerose = MS)
- 12/2013: wegen fehlender Besserung Einholung einer Zweitmeinung in
Neurologischer Universitätsklinik, erneute Bildgebung: Diagnose
einer konzentrischen Sklerose Balo (1927 von Balo erstmalig
als Encephalitis periaxialis concentrica beschriebenes Krankheitsbild
im Sinne einer akuten, rasch progredienten (fortschreitenden) entzündlichen
Erkrankung des ZNS (zentralen Nervensystems), in früheren Zeiten
binnen wenigen Monaten zum Tode führend, Diagnose post mortem (nach
dem Tode) durch Nachweis charakteristischer konzentrischer, "schießscheibenförmiger"
Herde des Gehirns, heutzutage frühe Diagnose durch moderne Bildgebung.
Einordnung als Variante einer akuten, schubförmigen MS, heute Verbesserung
der Prognose durch aggressive Therapie, insgesamt seltene Erkrankung
– z. B. in der Literatur 5 dokumentierte Fälle weltweit bei Kindern)
- Einschluss in eine Studie (Charite Berlin, 8 Patienten bundesweit)
- 3/2014 Vorstellung in der Praxis Kellner mit der Frage, ob doch eine
Borreliose vorliegen könne
- in Verbindung mit dem klinischen Bild nun Diagnose einer aktiven Borreliose-Infektion
durch positiven Lymphozytentransformationstest (LTT):
- chronische seronegative Borreliose und
Neuroborreliose im Stadium 3
- Abklärung von Koinfektionen:
- Nachweis einer Ehrlichiose, ebenfalls mit LTT
- negative Serologie bezüglich Chlamydia pneumophila et trachomatis,
Yersinia enterocolitica, Toxoplasma gondii, Babesia microtis, Bartonella
henselae, Coxiella burneti, Mycoplasmen, Rickettsien, CMV (Cytomegalie-Virus),
EBV (Ebstein-Barr-Virus), VZV (Varizella zoster-Virus)
- negative PCR bezüglich JC-Virus (John Cunningham-Virus, erhöht
bei Nachweis unter unten genannter Natalizumab-Therapie das Risiko für
eine sogenannte progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), die
meist tödlich verläuft)
- Verminderung der CD 57 positiven NK-Zellen
- Ferner Abklärung von Komorbiditäten (zusätzlichen
Erkrankungen oder Belastungen) mit folgenden Ergebnissen:
- mitochondriale Dysfunktion, Adipositas Grad 1 (BMI 31 kg/qm),
Hyperlipoproteinämie (Erhöhung von Lipoprotein (a)), intestinale
Barrierestörung (durchlässiger Darm, sogenannter leaky gut),
multiple Nahrungsmittelunverträglichkeiten vom Typ 3, Histaminintoleranz
bei Diaminoxidasemangel, Mastzellaktivierung, Nährstoffdefizite
(Vitamin D, Zink, Magnesium, Selen), Metallbelastung (hohe Werte für
Blei, Arsen, Aluminium, Quecksilber), Zigarettenrauchen, euthyreote
Knotenstruma (Vergrößerung der Schilddrüse mit mehreren
großen Knoten)
Therapie
- 11 und 12/2013: neurologischerseits Cortisonstöße
(über 3 bzw. 5 Tage, je 1000 mg Prednisolon)
- Ab 1/2014 neurologischerseits Einführung von Natalizumab
(immunmodulierend und - supprimierend wirkender monoklonaler Antikörper,
der Rezeptoren an B- und T-Lymphozyten blockiert, das Andocken an Adhäsionsmolekülen
der Gefäße und den Austritt der Immunzellen in entzündetes
Gewebe verhindert), 300 mg alle 4 Wochen i. v. bis 12/2015
- 6/2014 Beginn einer antibiotischen Therapie in der
Praxis Kellner nach den aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie: Gabe von 2 g Ceftriaxon iv über 3 Wochen.
Wegen beginnender, aber geringer Symptomverbesserung Vereinbarung eines
individuellen Heilversuchs nach eingehender Aufklärung. Zusätzliche
Einnahme von Hydroxychloroquin (H) oral, Fortführung der Ceftriaxontherapie
für weitere 3 Wochen, danach Minocyclin (M) in therapeutischer
Dosis (200 mg unter Blutspiegelkontrolle) plus Quensyl (Q, 200 mg),
später orale Gabe von Azithromycin gepulst. Nach kritischer Bewertung
des bisherigen Verlaufs nach Pause Doxycyclin 400 mg iv gepulst plus
Metronidazol iv / oral über 10 Tage (nach Burrascano). Zuletzt
erneut M / H. Vorläufige Beendigung der antibiotischen Therapie
2015.
Begleittherapie: Ernährungsumstellung, Probiotika,
Vitamin D, Magnesium, Zink, antiinflammatorisch wirkende Polyphenole,
passager Antihistaminikum, Ketotifen, 2016 intermittierende intravenöse
Metallausleitung mit Chelatoren
Verlauf, Ergebnisse
- Vor Beginn der Antibiose unter Prednison und Natalizumab stabiler
Zustand, konstante hohe Symptombelastung, weitgehende Unfähigkeit
zu jeglicher Teilhabe am Alltagsleben
- 5/2014 MR-Kontrolle: unveränderter Befund bezüglich der
entzündlichen Herde
- Unter Antibiose deutlicher, kontinuierlicher Symptomrückgang
- Subjektiv und objektiv gute bis befriedigende Verträglichkeit
der Antibiose
- 12/2014 Verschlechterung der neurologischen Symptome unter Azithromycin
- 2/2015 MR-Kontrolle: Größenabnahme aller Herde, komplettes
Verschwinden eines Herdes
- nach Beendigung der Antibiose zunehmende Nebenwirkungen der Natalizumab-Therapie,
deshalb in Konsens mit dem angenehm aufgeschlossenen behandelnden Neurologen
Abschluss der Antikörper-Behandlung
- ausgezeichnete Kooperation mit dem am Wohnort behandelnden Hausarzt
- eingeschränkte, langsam besser werdende körperliche Leistungsfähigkeit.
10/2018 nach eigener Aussage gute Lebensqualität, wenn genug Achtsamkeit
gegeben ist, weitgehende Besserung der geistigen Funktionen
- bis heute in größeren Zeitabständen vorübergehende
Verschlechterungen der Konzentrations- und Merkfähigkeit, erträgliche
Schmerzschübe der Extremitäten über 4-5 Tage mit Erfordernis
der Schonung. Wegen einer Phase konstanter Symptomverschlechterung mit
Nachweis einer erneuter Borrelien-Präsenz durch positiven LTT ab
9/2017 wiederum Behandlung im Sinne eines individuellen Heilversuchs
mit Minocyclin und Artemisia annua intensa (einjährigem Beifuß)
über einen längeren Zeitraum bis zum Wiedererreichen des Zustandes
vor Verschlechterung.
- anlässlich wiederholter MR-Kontrollen von Schädel und gesamter
Wirbelsäule (zuletzt in 10/2018) weitere Rückbildung beziehungsweise
Verschwinden der vormals entzündlichen Herde
- bei wiederholten Kontrollen nach Therapieende zunächst negativer
LTT-Befund für Borrelien und Ehrlichien, bei Rezidiv erneut positives
Ergebnis, nach Erreichen der Remission wieder negatives Resultat.
- weiterhin erniedrigte CD 57 positive NK-Zellen.
- Fortführung der Begleittherapie (die Metallausleitung konnte aus
Kostengründen nicht bis in den Zielbereich durchgeführt werden)
- Berentung wegen fortbestehender Berufsunfähigkeit
Zusammenfassung und kritische Wertung
Bereits zu Beginn wies die Patientin Zeichen einer chronischen Multisystemerkrankung
auf, die durch die Diagnose einer MS nicht vollständig erklärbar
waren. Die Gesamtsymptomatik wurde durch die aggressive immunsuppressive
bzw.-modulierende Therapie der vermuteten MS nicht gebessert. Unter antibiotischer
Therapie (mit Begleittherapie und Fortführung der fachneurologischen
Therapie) kam es zu einem kontinuierlichen Rückgang der Symptome.
Die Normalisierung war durch multiple Komorbiditäten verzögert.
Eine mögliche negative (den Therapieerfolg bremsende) Wechselwirkung
zwischen der immunsuppressiven Therapie mit Natalizumab und der antiinfektiösen
Behandlung kann nicht ausgeschlossen werden. Eine vollständige Wiederherstellung
des Gesundheitszustandes vor Krankheitsbeginn konnte bis heute nicht erreicht
werde. Die Lebensqualität wurde dennoch trotz der bekannten und derzeit
noch nicht abschließend beurteilbaren Auswirkungen der Langzeitantibiose
(zum Beispiel auf das Mikrobiom / das Bakterienmilieu des Körpers)
massiv verbessert.
Diese positiven Ergebnisse konnten nur durch das hohe Engagement, das
Expertentum in eigener Sache und den Kampfeswillen von Seiten der Patientin
erreicht werden. Eine langfristige Betreuung und Nachsorge ist weiterhin
erforderlich.
Letztendlich belegt die Fallbeschreibung, dass die seronegative chronische
Borreliose schwierig in der Abgrenzung zur multiplen Sklerose ist und
im Einzelfall mit der gängigen Labordiagnostik nicht erfasst wird.
Unbedingt zu beachten sind primäre Symptome, die über eine rein
neurologische Erkrankung hinausgehen und den Blick auf eine Multisystemerkrankung
lenken müssen. Auch vielfältige Komorbiditäten müssen
beachtet werden, weil Sie den Heilungsverlauf verzögern und erschweren.
Die Spätborreliose kann sich als eine schwere, chronische, hartnäckig
verlaufende Erkrankung manifestieren.
Dennoch ist eine Linderung der Symptome möglich, in weniger dramatischen
Fällen auch eine Heilung. Die länger dauernde, nebenwirkungsreiche
Antibiotikatherapie ist unbefriedigend und kritisch zu sehen. Die Weiterentwicklung
und Evaluation alternativer Konzepte sind dringend notwendig.
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